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Mein litauischster Tag

Der 16. Februar ist einer der litauischen Unabhängigkeitstage. Oh, äähm, „einer der“? Ja, der erste Satz klingt etwas holprig und verleitet zum Nachdenken. Litauen feiert tatsächlich mehrere Male im Jahr seine Unabhängigkeit. Die litauische Bevölkerung tut das allerdings keinesfalls aus exzessiver Feierwut, sondern aus historischen Anlässen – da Litauen die Unabhängigkeit des Öfteren verlor, musste es diese auch des Öfteren wieder erlangen. Wie zum Beispiel am 16. Februar 1918.  Heuer feierte Litauen also sein 101-jähriges Jubiläum als unabhängiger, demokratischer Staat (ausgenommen der fast 50 Jahre unter nationalsozialistischer bzw sowjetischer Besatzung).

 

Bei wunderbarem Wetter schloss ich mich dem Hiking Club für eine Wanderung in der nahen Umgebung von Vilnius an. Viele alte und neue Gesichter wanderten an diesem sonnigen Tag durch die hügelige Landschaft, schwenkten bunte Fahnen, sangen litauische Volkslieder und tanzten zum Aufwärmen fröhlich Polka. Pünktlich um 1 Uhr stellten wir uns alle im Kreis auf, die Musiker und Fahnenschwenker waren schon bereit, und sangen gemeinsam die litauische Nationalhymne. Außerdem zündeten wir auf einem uralten Grabhügel eine Kerze für die Vorfahren an und sangen auch dort wieder alte Lieder.

 

Das Highlight der Wanderung war für mich eindeutig eine Konversation auf Litauisch mit einer litauischen Frau, die kein Wort Englisch konnte. Wir unterhielten uns richtig lange und ausführlich, und verstanden uns abgesehen von meinen mickrigen Litauischkenntnissen mit einer großen Portion Körpersprache. Im Unterschied zu so vielen früheren Gesprächen auf Litauisch ging dieses über den Small Talk hinaus. So erfuhr ich, warum meine Gesprächspartnerin, die eigentlich in einem kleinen Dorf im Landesinneren lebt, für den Feiertag nach Vilnius gekommen war (sie besuchte ihren Sohn, der die Wanderung organisierte) und dass und warum sie einige Jahre lang mit ihrer Familie in Spanien gelebt hatte. Sie lobte meine Anstrengungen, Litauisch zu lernen und auf meine Nachfrage übten wir auch gleich nochmal die Monatsnamen und so manche Verbkonjugation. Irgendwie klappte das Litauischreden einfach erstaunlich gut!

 

Anders erging es mir ein paar Stunden später, als wir nach der Wanderung gemäß der Tradition des Hiking Clubs hungrig im Šnekutis („it actually means the man who talks a lot“) saßen. Denn auf Grund meiner „fortgeschrittenen Litauischkenntnisse“ wollten einige meiner Freunde nur mehr Litauisch mit mir reden. Doch scheinbar hatte mein Körper beschlossen, alle Restenergie aufs Essen zu fokussieren und keine Konzentration mehr für die litauische Sprache aufzuwenden. Und so hatten meine Tischnachbarn sichtbar Spaß daran, mich herauszufordern und zu überfordern. Ich konnte nämlich wirklich nicht mehr kommunizieren. Die einfachsten Wörter fielen mir nicht mehr ein, und irgendwann war ich vom Wandern, Reden, Lachen und Denken so müde, dass ich nicht mal mehr Englisch sprechen konnte.

  

Die logische Schlussfolgerung der Situation wäre gewesen: Ab ins Bett! Doch der Konjunktiv ist schon richtig platziert, von Schlafen war noch lange keine Rede – wollte der litauische Unabhängigkeitstag doch ausführlich gefeiert werden! Wir begaben uns also in die mit Lagerfeuern dekorierte Innenstadt, mitten ins Getümmel, und mitten in den Fackelumzug. Kaum hatten wir uns diesem genähert, drückte uns auch schon jemand eine Fackel in die Hand und so zogen wir singend und grölend durch die Straßen. Um die Inhalte der Lieder zu verstehen, oder nachzufragen, war ich zu erschöpft, und so ließ ich mich einfach vom Feuerfluss mitreißen und treiben. Ein bisschen mulmig war mir aber dennoch im Magen – was war hier stolzes Nationalbewusstsein, was war glückliches Feiern der Unabhängigkeit, was war bedenklicher Nationalismus? Von meiner Frage diesbezüglich waren meine litauischen Freunde etwas verwirrt und so musste ich einleitend meine österreichische Perspektive darlegen. Ich glaube nämlich nicht, dass ich mich in einer derartigen Situation in Österreich wohlgefühlt hätte. Jedenfalls versicherten sie mir, dass es sich hier um friedliches, dankbares und stolzes Feiern handelte und sie dies keinesfalls als beunruhigend empfanden. Und ich – ich reflektierte über die vielen Ereignisse des Tages und fühlte mich so litauisch wie nie zuvor.