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59. Allez les bleus!

Nein, ich habe nicht jedes Spiel gesehen, war nicht im VIP-Fanbereich im Stadium und hab die Marseillaise nicht mitgegrölt. Eigentlich ist es mir auch ziemlich egal gewesen, welche Mannschaft schlussendlich den EM-Pokal in der Hand halten würde, aber als er für Frankreich nur mehr millimeterweit entfernt war und dann doch an Portugal ging, dacht ich mir schon mal kurz „oh“. Denn es wär ja doch episch gewesen, wenn Frankreich EM-Meister

geworden wäre bei der EM, die in Frankreich stattfand, im dem Jahr, in dem ich in Frankreich war.

Das Feeling im Land während der EM war in Frankreich definitiv anders als in Österreich. Tja, auch kein Wunder, schließlich gab Frankreich in mehreren Aspekten den Ton an und die Fans hatten gar keine andere Wahl, als die französische Mannschaft bis zum wortwörtlich bitteren Ende zu unterstützen, während man sich in Österreich eine fremde Mannschaft aussucht und dann mehr oder weniger hinter ihr steht. Die Stimmung war also dermaßen

pro-französisch, dass es mir psychisch teilweise schon zu viel wurde. Zwei Spiele, bei denen Frankreich an der Reihe war, erlebte ich mit anderen Leuten in der Stadt: Das Halbfinale Deutschland-Frankreich während ich in Besancon war und das Finale Portugal-Frankreich in Caen.

 

Während des Halbfinales D-F war es unter erschwerten Umständen gerade noch möglich, sich auf der Terrasse der Bar in der Innenstadt zu unterhalten. Ich sah keinen einzigen der Fernseher in den zahlreichen Bars rund um uns, vor denen die Fans kilometerweit Schlange standen um zuzuschauen. Doch ich erlebte das Spiel vollkommen mit; jeder Schuss, jeder Angriff, jedes Foul, jede langweilige Minute, jedes Tor wurde von den Zusehenden derart

vertont, dass mir die akustische Darbietung den gesamten Spielverlauf verriet. Und da ich nicht damit beschäftigt war, auf den Bildschirm zu starren, konnte ich umso besser die Menschen beobachten: Jung und Alt (das Mittelalter dominierte), Frau und Mann (verstärkt Letzteres), Dick und Dünn (hey, wir sind in Frankreich: eindeutig Letzteres), Bier und Wein (eher Bier), Betrunken und Nüchtern (während des Spiels: meist eher angeheitert, schließlich will man ja doch noch was vom Spiel mitkriegen) drängten, grölten, schrien, tanzten, lachten, zitterten, umarmten sich, teilten ihre Emotionen mit den unbekannten Nachbarn sowie dem besten Freund. Gegen Ende des Spiels wurden die Franzosen verstärkt siegessicher, der anfänglich vorherrschende Respekt gegenüber den deutschen

Nachbarn wurde vergraben und jede Gefühlsregung wurde dadurch zum Vulkan.

 

Und dann: Pfiff – Der Sieg!! Noch nie zuvor hatte ich eine derartige Szene in diesem Ausmaß erlebt (tja, Österreich bot mir die Gelegenheit eben noch nicht so wirklich). Die Massen zogen los, weg aus den Bars, raus auf die Straße. Sie setzten sich in Bewegung. Wohin? Weiß keiner. Ah, plötzlich liefen sie alle in der Mitte des Platzes zusammen. Sie sprangen. Sie weinten. Sie schwenkten ihre Fahnen. Sie hatten sich alle lieb. Und: Sie sangen die Marseillaise. Nicht einmal, nein, im Dauerlauf! Aux armes, citoyens! - Ich halte hier jetzt keinen Diskurs über den Inhalt der französischen Nationalhymne, aber wenn sie erklingt, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. In Österreich besingen wir die Schönheit, den kulturellen und menschlichen Reichtum des Landes, Frankreich ruft auf zum Kampf. – Weiter ging’s, Richtung nowhere. Und dann wieder zurück. Blau. Weiß. Rot. Danke, ich habs kapiert! Mit Autos durch die Innenstadt. Tuuuuuuuut tuuuuuuuuuuut. 10 Leute im Auto mit

offenem Kofferraum, durch die inzwischen restlos betrunkene Menschenmenge. Why not? Diese Energie, die in den Menschen steckte, war einfach unfassbar. Schön, dass sie sich für etwas begeistern können. Super, dass sie raus auf die Straße gehen. Toll, dass sie für einen Abend plötzlich die besten Freunde ihrer Feinde werden. Doch diese Energie kann man auch anders nutzen. Mit negativem Hintergrund. Ich möchte nicht dabei sein!

 

Das zweite Spiel verlauf anders – war es doch das Finale: Frankreich – Portugal. Hier stürzte ich mich dann doch ins Public Viewing im Château. So viele Leute waren gekommen, dass nicht mal alle eingelassen wurden. Das erste, was uns drinnen passierte: Farbe ins Gesicht. Wir hatten gar nicht mal die Wahl, natürlich bekamen wir rouge-blanc-bleu auf die Wangen gemalt. Die Stimmung heizte auf. Schon etwa eine Stunde vor dem Spiel drängten die Fans

möglichst nahe an die Leinwand, Musik dröhnte lautstark aus den Lautsprechern und auch der feine Regen schreckte niemanden ab. Ich war gemeinsam mit Christina, der deutschen EFDlerin, und Rim, einer marokkanisch-französischen Freundin. Und vor Ort bemerkten wir wiedermal den zufälligsten Zufall: Keine von uns hatte sich speziell französisch angezogen – doch zu dritt stellten wir exakt die Flagge dar! Ist das witzig!

 

Und dann gings los. Marseillaise zur ersten. Fahnen in die Höhe. Pfeifen. Tröten. Das bekannte Szenario eben. Buh-Rufe und Stinkefinger und Beleidigungen für die Portugiesen. Oh! Anstoß. Nichts. Torchance. Nichts. Uuuuund nichts. Da die Spieler offenbar noch in der Aufwärmphase steckten, gaben die Fans dafür Gas. Um die Spieler zu unterstützen. Aber noch viel mehr, um sich selbst bei guter Laune zu halten. Also: allez les bleus! Tuuuuuuuut

tuuuuuuuuuut! Mit der Zeit wurde das langweilig, ein neuer Spruch musste her. Und plötzlich setzte sich die Masse in Bewegung. Vertikal. Sie sprangen. Und sprangen. Und schrien. Nach einigen Wiederholungen hatte ich den Satz verstanden: „Qui ne saute pas n’est pas francais, he!“ Tja, da passte es ja gut, dass wir noch nicht mitgesprungen waren. Und nur eine kleine Randbemerkung: Rund um uns stand keiner still, doch wir blieben am Boden.

 

Irgendwann konnten sie nicht mehr. Zu anstrengend. Doch beim Spiel passierte genau – nichts. Ein kleiner Bub, der auf den Schultern seines Vaters saß, und sich deswegen dezent riesig und mutig fühlte, fing also – ganz leise und verstohlen – an zu schreien: „C’est qui, les meilleurs?“ Doch seine Nachbarn hatten ihn wahrgenommen. Und antworteten – wenn auch nur mit halber Überzeugung: „C’est nous!“ Ermutigt schrie der Kleine weiter, diesmal ein

bisschen lauter. Und erhielt dafür viele Antworten, mehr als beim ersten Mal. Und nach einigen Wiederholungen kreischte er aus voller Kehle. Wer sind die Besten? Wiiiiiiir! Etwa fünf Minuten lang hielt er durch. Dann konnte er nicht mehr. Und war enttäuscht, denn gebracht hatte es – nichts!

 

In der zweiten Verlängerung fiel dann das entscheidende Tor der Portugiesen. Es wurde still. Die Emotionen hatten sich gewendet. Aus den siegessicheren Kampfbegeisterten wurden kleine verzweifelte Erbsen. Alle Hoffnung war aufgegeben. Als zehn Minuten später der Schlusspfiff ertönte, war es fast schon eine Erlösung. Die Menschen schauten sich an. Starrten auf den Boden. Einige setzten sich nieder in den Staub. Die Fahnen blieben am Boden liegen. Man hörte ein paar Schluchzer. Ein paar Fußtritte. Ein paar „merde“. Doch das

war schnell vorbei. Denn traurig und geknickt verließen die Zuschauer das Feld. Keiner sah die Preisverleihung. Und plötzlich waren alle weg.

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